KUNSTWERK DES MONATS OKTOBER 2012

Die Emder Armenordnung von 1576

Als Menso Alting seine Predigerstelle im Oktober 1575 in Emden antrat, war von der sogenannten Blütezeit Emdens im 16. Jahrhundert wohl nur wenig zu sehen.

Gerade wütete eine Seuche, die noch einen Monat herrschte und einige Tausend Einwohner dahinraffte. Unter den Opfern waren auch die verbliebenen drei Emder Pastoren, die für die Gemeinde und die Kirchenzucht zuständig waren. Mit beidem, Gemeindeleben und Kirchenzucht, stand es bereits vor dieser Katastrophe nicht zum Besten, nun drohte sogar der Zusammenbruch. Menso Altings dringendste Aufgabe war es daher zunächst, die Gemeinde wieder aufzubauen. Zeit seines Lebens bemühte er sich darum und richtete sie nach seinen streng calvinistischen Ansichten aus.
Bereits wenige Monate nach seiner Ankunft wurde als erste Maßnahme zur Wiederaufrichtung der Gemeinde eine Armenordnung am 13. März 1576 in Kraft gesetzt. Dass gerade diese Ordnung die erste war, die Alting umsetzte, war kein Zufall. Viele Familien hatten durch die Seuche ihren Ernährer, viele Kinder ihre Eltern verloren und standen nun ohne Auskommen und ohne Absicherung dem Leben gegenüber. Doch war die Epidemie nicht der alleinige Grund für die Neuorganisation des Emder Armenwesens gewesen. Die Bevölkerung der Stadt hatte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten verdrei- bis vervierfacht, die Kommune wuchs in diesem Zeitraum weit über ihre damalige Ausbreitung hinaus und die bebaute Fläche wurde durch neue Stadtteile wie Groß- und Klein-Faldern verdoppelt. Das bestehende System der Armenfürsorge konnte den veränderten Verhältnissen nicht gerecht werden – dies offenbarten gerade die Folgen der Epidemie eindrücklich.
Mit der neuen Armenordnung wurde nun die Stadt systematisch in sogenannte Kluften, Bezirke sozusagen, unterteilt, für die jeweils ein Prediger, ein Hauptdiakon und fünf Unterdiakone zuständig waren. Diese sollten in ihren Kluften zunächst die Armen und Bettler befragen, ob sie selbstverschuldet, durch Faulheit oder Trunksucht etwa, oder unverschuldet in Armut geraten seien. Wurde nach dem Befragen die „Rechtschaffenheit“ der Armut festgestellt, wurden die Menschen mit Almosen unterstützt. Gänzlich selbstlos war die Fürsorge nicht. Mit der Armenordnung sollte zugleich die Kirchenzucht gestärkt werden. Denn nur derjenige, der nicht in Sünde und Schande lebte, sondern rechtgläubig war, durfte Almosen erhalten. Jegliches Fehlverhalten konnte zum Entzug der Almosen führen, mindestens aber zu einer Befragung durch die Diakone. Für die Kontrolle der Bedürftigen wurden extra berufene Armenvögte eingesetzt, die die in den Straßen bettelnden Armen aufgriffen, auch nachts durch die Stadt patrouillierten und jeden sündhaften Verstoß den Diakonen melden sollten.
Durch Haussammlungen, Kollekten und Spenden wurden die Almosen finanziert, die Buchführung über die Einnahmen und die Ausgaben oblag dabei den Hauptdiakonen. Die Finanzierung des Armenwesens war, damals wie heute, eine der schwierigsten Aufgaben. Da man bei den Einnahmen nur wenig Einfluss nehmen konnte, blieb nur die scharfe Kontrolle der Ausgaben. Deshalb wurden auch solche Sachverhalte in der Kirchenordnung festgelegt, die darauf abzielten, den Kreis der Bedürftigen möglichst klein zu halten. Denn mit jedem neuen Bedürftigen wurde das städtische bzw. gemeindliche organisierte und finanzierte System der Armenfürsorge belastet, ja durch allzu laxes Auslegen der Almosenvergabe sogar gefährdet. So erhielten Bedürftige, die reiche oder wohlhabende Verwandte und Freunde hatten, keine Almosen und mussten durch jene privat versorgt werden. Im Winter wurden die Diakone angehalten, den Armen Arbeiten zuzuteilen, damit diese sich etwas dazuverdienen und so die Diakonie entlasten konnten. Knaben und Mädchen sollten, sofern alt genug, in Ausbildung gebracht werden.
1594 wurde die Armenordnung in eine neue, umfassende Kirchenordnung integriert.

Matthias Pausch M. A.