Auf der Höhe der Zeit

Eröffnung der Sonderausstellung am 10. März 2013

Discover Me! - Zeitgenössische Kunst aus dem Nordwesten

Rund 180 Gäste, darunter viele Künstler aus Nordwestdeutschland und den Niederlanden, besuchten die Eröffnungsveranstaltung der neuen Sonderausstellung "Discover Me!" des Ostfriesischen Landesmuseums Emden in den Pelzerhäusern 11+12. Die Sonderausstellung zeigt mehr als 100 Kunstwerke von 33 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern aus dem Nordwesten. Neben den klassischen Gattungen und vertrauteren künstlerischen Positionen wird die Vielfalt der heutigen Kunstsprachen bis hin zu Videokunst und Computerprints sichtbar.

Die Sonderausstellung ist dienstags bis sonntags von 11-18 Uhr geöffnet. Sie ist Teil des Netzwerkprojekts "Land der Entdeckungen" der Ostfriesischen Landschaft.

Ein Katalog zur Ausstellung ist im Kunstladen des Landesmuseums zum Preis von € 7,00 erhältlich.

Unter den Fotos finden Sie den Text der Eröffnungsrede von Janneke de Vries,
Direktorin der GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen
 

Fotos: Silke Meiser

   

    

  

  

  

 

 

Eröffnungsrede von Janneke de Vries

Um uns allen nichts von der im Titel angekündigten Entdeckungsreise in die
zeitgenössische Kunstproduktion des Nordwestens vorweg zu nehmen, werde ich an dieser Stelle nicht alle der hier gezeigten über 30 Künstlerpositionen eine nach der anderen in viel zu kurzen Sätzen und zu kurz gefassten Gedanken durchhecheln. Ich selbst empfinde Einführungen dieser Art selten als hilfreich, sondern eher als extrem ermüdend, denn im Rahmen einer Einführungsrede kann man den einzelnen Arbeiten unmöglich gerecht werden. Und bei über 30 verschiedenen Ansätzen, die so vielgestaltig sind, wie die, die uns hier erwarten (soviel verrate ich nun doch) sollten wir besser wach sein, wenn wir ihnen später gegenübertreten.

Ich möchte mich viel lieber mit Ihnen über den Titel der Ausstellung annähern. Denn ich freue mich sehr, mit Ihnen heute eine Ausstellung eröffnen zu können, die bereits im Titel zum Entdecken auffordert: „Discover me“, „Entdecke mich“. In meiner Arbeit mit zeitgenössischer Kunst mache ich nun seit rund 20 Jahren immer wieder die Erfahrung, dass es ohne den im Titel angesprochenen Entdeckerwillen im Umgang mit Kunst nicht geht. Ein Entdeckerwille nicht nur auf der Seite der Künstler und Kuratoren – den braucht es ganz sicher auch –, sondern ein Entdeckerwille eben auch auf der Seite der Betrachterinnen und Betrachter.
Kunst betrachten ohne Offenheit für Neues, ohne Neu-Gier, ohne den Wunsch, etwas für sich entdecken zu wollen – das ist ein aussichtsloses Unterfangen. Man sieht vielleicht etwas. Im Idealfall fühlt sich auch die Seele das ein oder andere Mal gestreichelt. Das kann durchaus geschehen. Aber das eigentlich Aufregende geht einem ohne den Entdeckerwillen, ohne die Offenheit für das, was einem begegnet, völlig verloren. Nämlich die Gelegenheit auf etwas zu treffen, was man so noch nicht kannte und mit dem man den eigenen kleinen Fokus um ein Stückchen erweitern kann.
Es ist ganz klar – die beste Kunst hat keine Chance, wenn sie auf ein Gegenüber trifft, das mit Schubladendenken hantiert oder sie mit Reaktionen traktiert, die über ein genervtes „Das hätte ich ja nun auch gekonnt“ nicht hinausgehen. Deshalb kann man gar nicht genug Ausstellungen mit der Aufforderung „Discover me!“ versehen.
Aber der Titel beinhaltet nicht nur den Imperativ, der sich an uns als Betrachterinnen und Betrachter wendet, sondern er steht auch für die vielfältigen Entdeckungsreisen, auf die sich die gezeigten Werke begeben und auf denen sie das „Entdecken und Aufdecken“ auf ganz unterschiedliche Weise zum Thema machen:
Indem sie etwa den Blick von oben zelebrieren (Menno Aden) oder die Zartheit von Ratten offen legen (Almuth Baumfalk).
Indem sie historische Gewänder und Kunststoff (Mechtild Böger) oder Schaufelbagger und Meeresrauschen (Irmgard Dahms) kontrastieren.
Indem sie das Asiatische an der ostfriesischen Landschaft herausarbeiten (Imke Diddens) oder ihre Realität potenzieren (Heiner Altmeppen).
Indem sie im Stil eines August Sander die heimischen Bewohner portraitieren (Matthias Löckers) oder die Farbenpracht konkreter Formenanordnungen offenbaren (Edeltraut Rath).
Indem sie Orte ihrer Kindheit aufsuchen (Sarah M. Hensmann) oder Bilder von Hochglanzwohnträumen denen von verfallenen und verlassenen Innenräumen gegenüberstellen (Tilman Rössler und Linde Schröders).
Indem sie intime Begegnungen mit Fremden inszenieren (Daniela Sieling) oder der Geschichte gefundener, alter Kinderfotos nachspüren (Marikke Heinz-Hoek).
Indem sie in Stillleben den Zustand kreativer Prozesse nachvollziehen (Richard Frey) oder sich an Farben und Material von Kleiderbasaren berauschen (Iskender Muhlis Kenter).
Indem sie sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion verorten (Renate Fäth, Vitor Ramos, Elisabeth Tatenberg, Caroline Weise) oder den Zufall in die Entstehung ihrer Bildwelten mit einbeziehen (Ulrich Schnelle).
Oder schließlich, indem sie geheimnisvolle Objekte aus alltäglichen Gegenständen herstellen (Anne Schlöpke) oder den Zauber von Sesamstraße und Wetterberichten offen legen (Horst Waigel).

Falls Sie denken, ich hätte jetzt doch einen kurzen Ritt durch alle der vertretenen Künstlerpositionen gemacht, täuschen Sie sich: dies sind nur einige wenige Beispiele für die Entdeckungsreisen, die die Künstlerinnen und Künstler uns hier präsentieren. Manche der Arbeiten sind anlässlich der Ausstellung entstanden, manche für die Präsentation von den Kuratorinnen ausgesucht.
Was in dieser kurzen Aufzählung wohl schon offensichtlich wird – eine thematische Klammer gibt es in dieser Ausstellung nicht wirklich. Die Vielfalt der gezeigten Positionen und von dem, was sich an Kunstproduktion im Nordwesten tummelt, ist beeindruckend. Dasselbe gilt für die verschiedenen Gattungen: Von Malerei und Fotografie über Zeichnung, Computerprint und Druckgrafik bis zu Video, Plastik und Installation ist alles dabei. Jede Menge zu entdecken also.
Der Nachsatz des Ausstellungstitels schließlich gibt die Lösung für die verbindende Klammer der unterschiedlichen Positionen: alle der gezeigten Künstlerinnen und Künstler sind in der Region des Nordwestens, also zwischen Groningen und Bremen geboren und aufgewachsen oder zugezogen und leben heute hier.
„Discover me! Zeitgenössische Kunst aus dem Nordwesten“. Warum muss man per Titel betonen, dass zeitgenössische Kunst aus dem Nordwesten entdeckt werden kann und vielleicht sogar muss? – Weil es stimmt. Weil es Kunst, die nicht in den so genannten Kunstzentren wie Berlin (oder in Deutschland wenigstens noch Düsseldorf, Köln oder München) entsteht, es tatsächlich schwerer hat. Denn sie steht nicht in gleicher Weise im Fokus der Wahrnehmung. Kunst aus der so genannten Provinz – ich darf das so nennen: ich bin in Weener geboren, habe in Bunde meine frühe Kindheit verbracht, bin in Leer aufgewachsen, arbeite in Bremen... Mehr Nordwesten und Provinz als ich kann man nicht sein – deshalb also: Kunst aus der so genannten Provinz muss von vorneherein viel stärker beweisen, dass sie entdeckenswert ist, als die Kunst, die in den von uns allen als solche akzeptierten Kunstzentren entsteht. Das ist zugegebenermaßen absolut und hochgradig ungerecht. Und wenn Sie durch die Ausstellung gehen, werden Sie selbst feststellen, dass dem nicht so ist, weil die Kunst aus der so genannten Peripherie auf einem schlechteren qualitativen Niveau angesiedelt wäre.
Dass Kunst aus dem Nordwesten sich noch einmal anders durchsetzen muss als die aus den Metropolen, hat ganz andere Gründe. Einer der wesentlichen Gründe liegt etwa darin, dass wir überhaupt in Kategorien wie „Zentrum“ und „Peripherie“ denken, dass wir solche Einteilungen überhaupt benötigen und wir überhaupt erlauben, dass sie uns die eigene Einschätzung abnimmt. Bequem ist das natürlich schon. Aber wirklich funktionieren tut es eben nicht. Bei der eigenen qualitativen Beurteilung von Kunst hilft uns die Frage nach Geburts- oder Wohnort des Künstlers in den meisten Fällen nicht weiter.
Ich möchte Ihnen eine Begegnung mit einer eigentlich sehr klugen Kuratorenkollegin aus Berlin erzählen, die ich vor etwa einem Jahr hatte: Zunächst hat sie mir ein Kompliment für die Ausstellungen ausgesprochen, die ich in Bremen an der GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst mache. Darüber habe ich mich zunächst gefreut. Dann aber hat sie folgenden Nachsatz nachgeschoben: „Und ich erkläre den Leuten in Berlin auch immer, dass man in Bremen einfach keine visionären Ausstellungen machen kann – zu weit weg von allem, was wichtig ist!“ Sie können sich meinen Ärger wahrscheinlich ungefähr vorstellen. Dass diese Bemerkung nicht nur unfassbar arrogant, sondern auch falsch war, hat sich gottseidank ein paar Monate später herausgestellt – da hat die GAK eine offizielle Belobigung für ihre Arbeit im deutschsprachigen Raum erhalten. Aber das nur am Rande.

Ich erzähle diese Geschichte, weil sie zeigt, wie schnell die Schubladen von „Zentrum = wichtig“ und „Provinz = unwichtig“ sich in unseren Köpfen festsetzen und dass offenbar niemand davor gefeit ist, diesen Kategorisierungen auf den Leim zu gehen.
Dabei kann man sich diesen Vorstellungen sofort entziehen, wenn man sich klar macht, dass die Frage nach dem Zentrum bzw. der Peripherie immer nur eine Frage des eigenen Standpunktes ist. Sobald man sich weniger von dem irre machen lässt, was andere denken, und man bei sich bleibt, ist das Zentrum genau da, wo man sich selbst befindet. Dann können eben auch Leer, Bunde, Weener oder Jemgum Zentrum sein, und Hamburg, Berlin, Madrid oder Taiwan werden zur Peripherie, die außerhalb der eigenen täglichen Erfahrung liegen – ich benenne hier übrigens Städte, die mit den Künstlerinnen und Künstlern der Ausstellung etwas zu tun haben, Lebensmittelpunkt oder Geburtsort sind.
„Provinz“ und „Zentrum“ werden in den Köpfen der Menschen definiert und nicht von einer geografischen Lage vorgegeben. „Provinz“ ist ein geistiger Zustand, keine Landschaft. Auch darf man eines nicht unterschätzen – es kann auch zerreiben, wenn man sich ständig mit dem vergleicht, was in den anerkannten Zentren geschieht. In-Beziehung-Setzen muss man sich als kultureller Produzent bis zu einem gewissen Grad schon, das ist absolut richtig und wichtig. Aber es kann eben im Extremfall dazu führen, dass man nur noch in Vergleichen denkt, sich verunsichern lässt und verlernt, auf sich selbst zu hören und den eigenen Weg zu gehen. So gesehen ist es auch eine unschätzbare Freiheit, sich von hergebrachten Kategorisierungen zu lösen, die vorgeben wollen, was Zentrum und was Provinz ist, und dass das, was Provinz ist, per se schlechter ist. Dann ist die Gelassenheit, sich den so genannten Zentren entziehen zu können, ein unschätzbares Gut, in dessen Freiraum gute Kunst und damit Entdeckungsreisen erst möglich werden. Denn wenn nicht die Kunst der Ort für geistige Entdeckungen ist, der Ort, an dem man sich von allen Hierarchisierungen lösen und neue Perspektiven einnehmen kann und soll – wo sollte dieser Ort dann sein?
Ganz im Sinne des Journalisten und Publizisten Klaus Bölling, der sich sicher war:
„In der Provinz, das wissen wir alle, da ist Kraft – und manchmal auch Herrlichkeit“
(*1928, 1974-82 Regierungssprecher).

Vielen Dank.