KUNSTWERK DES MONATS JULI 2009

Ein Dolch mit magischen Kräften

Als Leihgabe der Naturforschenden Gesellschaft zu Emden von 1814 befindet sich in der Abteilung „Aus dem Fundus“ (unter dem Begriff „kämpfen“) im Ostfriesischen Landesmuseum Emden eine seltsam geformte Stichwaffe.

Kris in roter Scheide
vor 1854
Holz, Damaszenerstahl
L: 41,3 cm
B: 7,2 cm
Inv.Nr.: Leih 325; NfG 78

Dieser Dolch stammt von der indonesischen Insel Java. 1854 wurde der Kris bzw. Keris – so die malaiische Bezeichnung für Dolch – samt einer aus Holz gefertigten roten Scheide der „Naturforschenden“ geschenkt. Das Objekt besteht aus einer schlangenförmig gebogenen, doppelschneidigen Metallklinge und einem hölzernen Griff, der die Form eines stilisierten und dadurch unbestimmbaren Tieres besitzt.
Obwohl auf der Scheide die mit Lackfarbe aufgetragene Information „Gesch. Ruÿl 1854“ zu finden ist, vermerkt der Jahresbericht der „Naturforschenden“ auf das Jahr 1854 einen anderen Schenker. Nicht der in Batavia (Jakarta / Indonesien) tätige Johannes Ruyl (seit 21.1.1850 korrespondierendes Ehrenmitglied), sondern der in Padang auf Sumatra lebende Major W. Kreling (ebenfalls seit 21.1.1850 korrespondierendes Ehrenmitglied) übersandte 1854 den Kris mit einer größeren Anzahl weiterer Waffen aus Südostasien nach Emden.
Für die Bewohner Indonesiens, Malaysias und der Philippinen ist ein Kris mehr als nur eine Stoßwaffe, mit der man sich verteidigen oder einen anderen Menschen verletzen bzw. töten kann. Er dient auch als Glücksbringer und steht in dem Ruf, seinem Besitzer Unverwundbarkeit zu verleihen sowie ihn vor Unwettern und Feuer zu schützen. Sogar Gebärenden sollen seine magischen Fähigkeiten Nutzen bringen, da dem Kris die Macht zugesprochen wird, Wehenschmerzen nehmen zu können.
In erster Linie wird der Kris aber nur zu besonderen Anlässen wie religiösen Festen getragen, ist also keine Alltagswaffe. Die Bedeutsamkeit des Dolches für seinen Besitzer ist so groß, dass die Indonesier ihm einmal im Jahr – einer Gottheit gleich – Opfer darbringen und die geflammte Klinge mit Zitronensaft, Arsen und Öl einreiben.
Die Klinge wird in der Regel aus Eisen und Nickeleisen gefertigt. Die verschiedenen Metalle werden – ähnlich wie bei japanischen Katanas (Langschwertern) oder europäischen Damaszenerklingen – in Lagen verschmiedet. Dadurch entsteht eine klare Struktur, die durch eine oberflächliche Behandlung mit Säure noch verstärkt wird und zumeist individuell dem Charakter des Besitzers angepasst ist. In Südostasien wird dieser Stahl häufig aus Meteoriten gewonnen, deren Bestandteile in der Hauptsache Eisen und bis zu 20 % Nickel sind. Aus diesem Grund betrachten die malaiischen Schmiede Eisen als Geschenk der Götter, das vom Himmel herab gefallen ist. Und so erklärt sich auch der Glaube an die magischen Eigenschaften der aus dem Metall gefertigten Dolche.
Die Anzahl der Bögen oder Windungen (Luk) des asymmetrischen Dolches ist grundsätzlich eine ungerade, wobei es üblicherweise sieben (Dapu Carubuk) oder 13 (Sengkelat) sind. Aber auch bis zu 29 Windungen können vorkommen. Je größer die Anzahl der Luks, desto höher ist – so zumindest empfinden es die Malaien – die Gefährlichkeit der Waffe. Der Kris aus dem Eigentum der „Naturforschenden“ besitzt sieben Luks und ist dementsprechend eine mindergefährliche Waffe, deren dienlichen Kräfte auch durch die Präsentation hinter Glas noch wirksam sind, denn bislang wurde die Vitrine weder von einem Feuer noch von einem Unwetter heimgesucht.

Aiko Schmidt M. A.